Mitschnitt im Deutschlandfunk: So 29.07.2019 um 21.05 Uhr
Durch Vermittlung eines Freundes bekam ich Kontakt zu der Journalistin Düzen Tekkal, deren Berichte von der IS-Front mich stark bewegten. Navid Kermani stellte mir den Kontakt zu einem syrischen Kloster her, das seine Aufgabe in der Versöhnung des Christentums mit dem Islam sieht. Von dort führte mich meine Textsuche zu den Gedichtsammlungen „Innenansichten aus Syrien“ und „Syrien, das vergessene Land: Ungehörte Schreie“. Es geht im ersten (gesprochenen) Text um schonungslose Schilderung des Terrors, der das syrische Leben bestimmt. Wie ein Leitmotiv kehrt der Ruf „Lass mein Volk leben!“ häufig wieder, allmählich zum Schrei gesteigert. Bedrohlich und nach und nach immer deutlicher wird das musikalische Geschehen von Kriegsgeräuschen begleitet (gestopftes Blech und Schlagzeug), eine ‚Un-Musik‘, die gegen Ende wie das Bellen eines Höllen- hundes wirken soll. Einzig während eines Gebets (Sopran-Solo, Text von SAID) schweigt die Kriegsmaschinerie.
Im Folgenden beschwört ein Kämpfer (Bass-Solo) in Vorahnung des Todes das Bild seiner Mutter, die ihrerseits nach seinem gewaltsamen Ende ihren Sohn beklagt. Liturgische Gesänge aus der syrisch-orthodoxen Kirche kontrastieren auf zunehmend dramatische Weise mit den Kriegsgeräuschen. Eine äußerst erregte Tenorstimme besingt das heimatliche Syrien wie eine geliebte Frau. Gehetzt von Todesangst und umgeben von Vernichtung stimmen alle Solisten und der Chor ein; alles gipfelt in dem zum Himmel gerichteten „Lass dein Volk leben“. Da überwältigt die Brutalität des Krieges jede menschliche Stimme: Ein Tamtam-Schlag (fff) lässt die Musik aus extremer Höhe in grauenvolle Tiefe stürzen.
Nach langem Schweigen rezitiert eine Sprecherin auf Arabisch Koran, Sure 2, Vers 115. Solisten und Chor greifen die letzte Zeilen in Goethes Übersetzung auf: „Gottes ist der Orient, / Gottes ist der Okzident, / nord- und südliches Gelände / ruht im Frieden seiner Hände.“ Mit den Worten „Frieden – Salam“ endet das Werk. Alle auf Deutsch gesungenen oder gesprochenen Texte werden von einer Sprecherin auf Arabisch wiederholt, während ein Oud-Spieler frei improvisiert.
Aus dem Programmheft der Dresdner Philharmonie zur Uraufführung
Text: Jürgen Ostmann
„Mein ganzer innerer Weg führt hin zu Gustav Mahler“, sagt George Alexander Albrecht, der über Mahlers Sinfonien eigene Werkeinführungen veröffentlicht hat und 1985 mit der Goldmedaille der Internationalen Mahler-Gesellschaft Wien geehrt wurde. Dem Außenstehenden drängen sich jedoch erst einmal ganz konkrete Gemeinsamkeiten der beiden Musiker auf – wie beispielsweise die Personalunion von Komponist und Dirigent. Sie war, so erklärt Albrecht, in früheren Jahrhunderten und noch bis zu Wilhelm Furtwängler eher Regelfall als Ausnahme. In seinem eigenen Fall verteilen sich allerdings beide Tätigkeiten mit geringen Überschneidungen auf unterschiedliche Lebensphasen: Das Komponieren war Albrecht von Jugend an ein Bedürfnis; erste Werke entstanden im Alter von elf Jahren, und weitere elf Jahre später lagen nicht weniger als 116 vor. Rudolf Hindemith (Pauls Bruder) war einer seiner Kompositionslehrer. Nach frühen Erfolgen als Dirigent konzentrierte sich Albrecht jedoch zunehmend auf diesen Schaffensbereich, und ab 1957 komponierte er ein halbes Jahrhundert lang überhaupt nichts mehr.
Seine Dirigentenlaufbahn lässt sich in überraschend wenigen Stationen zusammenfassen: Nach Anfängen am Bremer Theater war er ab 1965 fast drei Jahrzehnte lang Generalmusikdirektor der Niedersächsischen Staatsoper Hannover. Diese Stelle gab er 1993 auf, um sich Gastdirigaten in aller Welt zu widmen (unter anderem von 1990 bis 1995 als Ständiger Gastdirigent an der Semperoper Dresden). Und 1996 trat er nochmals ein festes Engagement an: Er wurde Generalmusikdirektor des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar, deren Ehrendirigent er seit 2002 ist. Mit dem Komponieren begann Albrecht erst wieder 2009: Neben Kammermusikwerken entstanden nun Motetten, Klavierlieder, eine Oper („Die Schneekönigin“), ein Zyklus nach Texten aus dem Konzentrationslager Buchenwald und 2015, unter dem Eindruck des syrischen Krieges, die Kantate „Himmel über Syrien“. Dieses letztgenannte Werk war es, das die Dresdner Philharmonie zum Kompositionsauftrag eines umfangreicheren „Requiems für Syrien“ bewog.
Im bisher Gesagten klingen bereits weitere Gründe für Albrechts Affinität zu Mahler an: Zunächst einmal verbindet beide Musiker, ungeachtet ihrer Orchester-Expertise, eine ausgeprägte Vorliebe fürs Vokale. Mahler war ja ein gefeierter Operndirigent und zudem Komponist von Liedern, deren Spuren sich selbst in seinen rein instrumentalen Sinfonien leicht entdecken lassen. Albrecht wiederum bezeichnet den Gesang seiner Mutter, die eine gut ausgebildete Sopranstimme besaß, als sein musikalisches Urerlebnis. „Grundlage meines Schaffens ist die Liebe zur menschlichen Stimme. Gesanglichkeit ist das Ideal meiner Instrumentalkompositionen, das sich mir besonders im Orchesterklang vollendet.“ Mit Gesang sind in der Regel Worte verbunden, und daraus ergibt sich eine weitere Gemeinsamkeit: Albrecht zieht, wie einst Mahler, musikalische Inspiration aus Texten und Themen, die ihn zutiefst bewegen und erschüttern. Aus Themen wie der Liebe, die unserem Dasein Sinn und Schönheit gibt. Oder dem Tod, der schrecklich ist, wenn mit Gewalt und Leid verbunden, der aber auch ein Segen sein kann, eine Verwandlung und Vollendung – wie Albrecht aus seiner langjährigen ehrenamtlichen Hospizarbeit weiß.
Eine gewisse Nähe zu Mahler erkennt man vielleicht auch in Albrechts Tonsprache, die sich am ehesten als ‚neoromantisch‘ bezeichnen ließe, die aber moderne Elemente einschließt, wenn es die inhaltliche Aussage verlangt. Albrecht schreibt lustvoll in Dur und Moll, und darin mag – neben den fordernden Dirigierverpflichtungen – eine weitere Ursache für sein jahrzehntelanges Verstummen als Komponist zu suchen sein. Schließlich galt in den späten 1950er Jahren, anders als heute, tonale Musik unter ernstzunehmenden Künstlern als verpönt. Für zwölftönige oder serielle Werke wiederum konnte sich der Dirigent Albrecht zwar durchaus erwärmen, er leitete ja auch viele Uraufführungen und zeitgenössische Musiktheaterproduktionen. Doch wurde ihm dabei wohl auch klar, dass solche Werke bei ihrem Publikum oft Interesse, aber nur selten im gleichen Maß innere Beteiligung weckten oder gar Erschütterung hervorriefen. Und so mochte er sich als Komponist, der an das Naturphänomen der Obertonreihe glaubte, nie von tonalen Bindungen und klassisch-romantischer Tradition lösen.
Einen Grund für die lange Dominanz „atonaler“ Musik (oder auch „abstrakter“ Gemälde) in der Nachkriegszeit benannte bereits 1949 Theodor W. Adorno: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Damit formulierte er ein tiefes Misstrauen gegenüber jeglicher Kultur nach dem Holocaust, insbesondere jedoch solcher, die sich dem Verdacht aussetzt, „schön“ zu sein, also vom Grauen abzulenken, es zu Genuss oder Sinn zu verklären und so den Opfern Unrecht zu tun. Ein Vorbehalt, den man durchaus auch gegenüber Albrechts „Requiem für Syrien“ äußern könnte. Darf Kunst sich das Leiden, den Krieg, die Vernichtung zum Gegenstand machen, sie ästhetisieren? Umgekehrt ließe sich allerdings auch fragen: Wo denn sonst als in der Kunst könnte das Leid Ausdruck und Trost finden und nicht zuletzt Bewahrung vor dem Vergessen? Die noch etwas weitergehende Frage, ob Musik über das Leiden auch noch schön sein, angenehm klingen dürfe, bejaht Albrecht: „Wo Menschen sind, wird geliebt, gibt es Schönheit.“ Und so begegnet man in seinem „Requiem für Syrien“ neben harschen Dissonanzen, geräuschhaft-unmusikalischen Klängen und erbarmungslos durchgehaltenen Marschrhythmen allenthalben auch Dur- und Mollakkorden, traditionellen Skalen, kleinen, kantablen Tonschritten, verständlicher Deklamation und expressiver Melodik. Daneben auch dem (für mitteleuropäische Ohren) exotischen Timbre der orientalischen Kurzhalslaute Oud und der arabischen Sprache. Und überhaupt einer großen Vielfalt von Perspektiven, die sich zur Einheit der Aussage fügen, nicht zuletzt in textlicher Hinsicht.
Unter den Autoren, die in Albrechts Werk zu Wort kommen, sind zwei Syrer: Zum einen Monzer Masri (* 1949), ein Lyriker und Maler, der bis heute in seinem Geburtsort, der syrischen Hafenstadt Latakia, lebt. Sein Text „Lass mein Volk leben“ schildert die verzweifelte Lage im Land abwechselnd in nüchtern beschreibenden und poetischen Abschnitten; ihnen entspricht im „Requiem“ die Gegenüberstellung gesprochener und gesungener Passagen. Zum anderen Nazmi Bakr (* 1979), der in der Schweiz Zuflucht fand und im Zürcher Diwan Verlag seinen Gedichtband „Syrien, das vergessene Land“ veröffentlichte; ihm sind die eindringlichen Worte eines Sohnes und seiner Mutter entnommen. Die längeren Textbeiträge der beiden werden ergänzt durch ein kurzes Gebet für die Flüchtenden aus der Feder des Schriftstellers SAID (* 1947), der in Teheran geboren wurde, aber seit langem in Deutschland lebt und arbeitet. Der ehemalige Präsident des PEN-Zentrums Deutschland wurde mehrfach für sein Engagement für politisch Verfolgte ausgezeichnet. Hinzu kommen Auszüge aus biblischen Psalmen, deren bildmächtige Sprache eine überraschende stilistische Verwandtschaft mit den neueren Texten der nahöstlichen Autoren offenbart.
Hinzu kommen schließlich noch die berühmten Verse aus Johann Wolfgang von Goethes Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“: „Gottes ist der Orient, / Gottes ist der Okzident, / nord- und südliches Gelände / ruht im Frieden seiner Hände.“ In ihnen hat der zutiefst christlich geprägte deutsche Dichterfürst eine Koranstelle (aus der zweiten Sure) paraphrasiert. Goethe wusste, dass in ihr nicht etwa ein islamistischer Allmachtsanspruch ausgedrückt ist, sondern vielmehr die Überzeugung, dass der eine Gott überall wirkt und sich dem Menschen in Natur, Vernunft und Liebe mitteilt. Goethe wusste auch, welche kulturellen Schätze das Abend- dem Morgenland verdankt. Anders als die meisten seiner Zeitgenossen näherte er sich dem Orient und seiner Religion mit großer Offenheit, fand gar in dem persischen Dichter Hafis (ca. 1315 – 1390) einen Geistesbruder, der Weisheiten aussprach, die ihm über alle Zeiten und konfessionellen Unterschiede hinweg gültig schienen. Wer heute, vielleicht angeregt durch die Aufführung von Albrechts „Requiem“, Goethes „West-östlichen Divan“ liest, kann ihm entnehmen, was uns die syrische Tragödie angeht. Und auch, dass ein recht verstandener Islam im Kern der ‚deutschen Leitkultur‘ immer schon enthalten war.
Jürgen Ostmann
Die Musik… bewegt das in den Altersgruppen nahezu ideal gestaffelte Publikum tief, weil die Form die Aussage verstärkt und nicht durch Brüche in Distanz setzt. Das bestätigt am Ende der lange, warmherzige Applaus an die hochklassigen Interpreten. Theoretische Positionen, Tendenzen, innere Widerstände und ästhetische Vorbehalte überwindet diese Musik, weil sie eine überzeugende Stärke in sich trägt. Die klanglichen Zeichen sind direkt verständlich.
„Requiem für Syrien“ ist ein rituelles Gebet für alle: Für Leidtragende, Opfer, Helfer, Betroffene und sogar die Verursacher der Katastrophen, die George Alexander Albrecht indirekt, aber nicht anklagend adressiert. Nicht mit Forderungen um Mitleid, sondern weil Texte und Musik vor allem das beschreiben, was verloren wurde. Albrechts Musik malt das zerstörte Schöne und zeigt die Lücken bewegend. Erfahrbare Mangelerscheinungen machen die Auswirkungen und das Ausmaß des Verlustes deutlicher als der hier unterlassene Versuch einer kompositorischen Ausgestaltung von Katastrophen. Chefdirigent Michael Sanderling objektiviert hier wie bereits im Mahler-Adagio und unterstützt die Aussagekraft damit mehr als durch Betroffenheitsgesten.
Der Komponist widersetzt sich der Konvention des distanziert-objektivierenden Hörens von „Neuer Musik“. Der wahre Affront ist also nicht die Emotion, sondern dass „Requiem für Syrien“ eine so starke Substanz und Qualität hat. Diese Partitur kann man nicht einfach als Strafe für die gelungene Überwältigung des ästhetisch trainierten Ichs in der Kitsch- oder Trivialitäten-Ecke entsorgen, weil an ihr die derzeit normativen Bewertungsmuster abprallen. Denn dafür ist „Requiem für Syrien“ einfach zu gut und zu subtil gearbeitet.
Roland H. Dippel
Uraufführung: So 03.06.2018/18.00 Uhr
Mitschnitt im Deutschlandfunk: So 29.07.2019 um 21.05 Uhr
https://www.nmz.de/kritik/oper-konzert/requiem-fuer-syrien-bremen-das-bellen-eines-hoellenhundes